Dilemma

 

Robert Menasse beschreibt in seinem neuen Roman „Die Hauptstadt“ Lobbyisten als Menschen, die, wenn sie über Zukunft reden, eine möglichst reibungslose Verlängerung der Gegenwart meinten.

Ein Gesichtspunkt, der manchen Entwicklungsstillstand in politischen Entscheidungsprozessen erklären könnte. Objektiv gebotenes Handeln wird zum Opfer ritualisierter Prozesse unter Einbindung aller nur erdenklichen Interessensgruppen. Stillstand, der sich bestenfalls im Schneckentempo vorsichtiger Kompromisse bewegt. Beispiele aus dem Gesundheitswesen kennen wir genügend. – Von den Arbeits-, Unterarbeits- und Projektgruppen bis zu den Versammlungen von Entscheidungsträgern. Kommissionen, beschickt mit Vertretern des Bundes, der Sozialversicherungen, aller Länder, der Vertretungen von Städten und Gemeinden, konfessionellen Krankenanstalten, Patientenvertretungen und Kammern, sowie weiteren, stimm- oder nicht stimmberechtigten Mitgliedern. Von der Unterarbeitsgruppe bis zum Entscheidungsgremium: Eine Heerschar von Lobbyisten. Tatsächliche Experten aber auch Entsandte, deren Expertenstatus sich allein darin zu begründen scheint, eingeladen oder delegiert zu sein. Sie reduzieren ihre Diskussionsbeiträge mangels fachlicher Tiefe gerne auf bestimmte Ideale der vertretenen Gruppe wie etwa Leistungs-, Verteilungs- oder Gendergerechtigkeit. Manche unterstützen im Zweifelsfalle das, was sie als Allgemeininteresse wähnen oder jene, von denen sie glauben, dass sie keine ausreichende Lobby hätten. Insgesamt ziehen sie meist - und sei es auch nur um ihre Position zu behalten - das Bestehende und die Sicherheit des Vertrauten dem möglichen Übel des Ungewissen vor.

Deshalb scheitern Lobbyisten, die oft unter Einsatz großer Mittel versuchen die Macht des Status quo zu brechen, häufig daran, dass die Verteidiger von Besitzständen sich generell leichter durchsetzen. Diesen Effekt bestätigten auch F.R. Baumgartner et al. 2009 in den USA mit ihrer wissenschaftlichen Studie zu „Lobbying and Policy Change“.

Lobbying zum Erhalt des Status quo wird also in der Regel erfolgreicher sein. Selbst eine für jedermann erkennbare Gegenüberstellung von Partikular- und Allgemeininteressen garantiert keinen Umschwung. Schließlich sind die sogenannten Allgemeininteressen oft auch nur schwer darstellbar und keine konstante Größe. Selbst wenn sie deutlich erkennbar und berechenbar sind oder durch Zahlen klar belegt werden, heißt das noch lange nicht, dass sie sich auch durchsetzen. Eine Heerschar von Lobbyisten mit ihren Experten, Pseudoexperten, Idealisten, Ideologen, Esoterikern, politischen Trittbrettfahrern und Adabeis erzeugen einen Verdünnungs-, Vernebelungs- und Unsicherheitseffekt, der Notwendigkeiten verschleiert, Ängste schürt, den Status quo einzementiert oder bestenfalls geringfügige Veränderungen zulässt.

Ein unbefriedigender Stillstand, der solange erträglich und nur wenig schädlich ist, als gesellschaftliche, ökonomische, wissenschaftliche Veränderungen nur über große Zeiträume Relevanz zeigen und nicht dringend zur Veränderung mahnen. Ein Stillstand, der allerdings fatal ist, wenn epidemiologische Herausforderungen, begrenzte Ressourcen, soziale und soziologische Entwicklungen dringend Veränderungen verlangen oder wissenschaftlich - technischer Fortschritt solche im Interesse großer Teile der Bevölkerung möglich und geboten erscheinen lässt.

Von der Struktur und Zahl der Krankenkassen, bis zu Frage neuer Behandlungsmöglichkeiten und Versorgungsformen erstreckt sich die Agenda notwendiger Anpassungen im Gesundheitswesen. Intensiven Lobbyismus erleben wir derzeit um die Zukunft der sozialen Krankenversicherungen. Selbst auf die Gefahr hin, dass viel von ihrem Lobbying verpufft, solange nicht die konkreten Ziele der Bundesregierung auf dem Tisch liegen, positionieren sich die Vertreter von Sozialversicherungen, Kammern und Bundesländern mit vielseitigen Argumentarien. Sie suchen Mitstreiter zum Erhalt des Status quo oder zumindest regionaler Strukturen, die die eigene Existenz gegenüber den deutlich erkennbaren zentralistischen Avancen der Bundespolitik sichern.

Auch in der Frage der Nutzung moderner Informationstechnologien in der Medizin erleben wir Beharrungstendenzen. Schließlich wird es aber nicht reichen, Telemedizin als reines Medium zum Austausch von Informationen zu verstehen. Egal, ob in der Speicherung und Bereitstellung von statischen Patienten- und Behandlungsdaten in ELGA oder in der Fernüberwachung von medizinischen Parametern einzelner Patienten. Nur weil Dokumente als PDFs gespeichert und Blutdruck- und Blutzuckerwerte statt per Laufzettel oder telefonischer Mitteilungen mit Hilfe einer App übertragen werden, ist noch kein nachhaltiger Mehrwert geschaffen. Telemedizin wird erst dann seine volle Wirksamkeit entfalten, wenn Patienten, Anbieter, Nutzer, Finanziers und die Gesellschaft bereit sind, tiefgreifende Veränderungen in den Prozessabläufen, in der Zuordnung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, aber auch in einer Erweiterung von Entscheidungsbefugnissen und Freiheiten zuzulassen.

Auch die unabdingbar notwendige Verlagerung von Investitions- und Betriebsmitteln, die der Zukunftsfähigkeit der ambulanten und stationären Versorgung geschuldet ist, wird einen Paradigmenwechsel voraussetzen. Den Investitionsbedarf im niedergelassenen Bereich zu erkennen und die Bereitschaft diesen auch zu tragen, ist nicht vereinbar mit dem Traum nach Erhalt des Status quo. Solange man allerdings die ohnehin rigiden Systemvorgaben nur durch noch unflexiblere ergänzt, werden alle Versuche zur Verbesserung der Primärversorgung, zur Entlastung der Krankenhäuser und zur Festigung der ambulanten Facharztversorgung ohne Nachhaltigkeit verpuffen. Ähnlich den falsch eingesetzten ärztlichen und pflegerischen Personalressourcen, die große Teile ihres Potentials an fragwürdige administrative Arbeiten vergeuden oder nicht ihrer Qualifikation entsprechend arbeiten können.

Überfällig sind auch Neustrukturierungen in der Medikamentenversorgung. Vielfältige Möglichkeiten des Internets bleiben ungenutzt, um das Preisgefüge innerhalb nationaler Grenzen nicht zu stören sowie nationalstaatliche Monopole und Gebietsschutz aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig gefährden zu klein dimensionierte Medikamentenkontingente die Versorgungssicherheit ebenso wie der Wegfall ärztlicher Hausapotheken nicht selten auch entlegene ärztliche Versorgungseinrichtungen in Frage stellt.

Beispiele wie diese gäbe es viele. Nicht nur im Gesundheitswesen. Umbrüche und geänderte Prämissen erfordern auch in anderen Bereichen unserer Gesellschaft tiefgreifende Änderungen. Egal ob im Bildungs- und Sozialsystem, bei den Pensionsregelungen, der Umwelt oder beim Arbeitsmarkt. Auch sie leiden unter der Fortschrittsbremse einer breit angelegten und alle Interessensgruppen umfassenden Lobbyarbeit. Es ist Aufgabe der Politik, sich darauf entsprechend einzustellen. Denn der Versuch der politischen Einflussnahme ist legitim und Teil einer freien pluralistischen Gesellschaft. Schließlich lautet ein amerikanischer Lehrsatz für Lobbyisten: „If you are not at the table, you are on the menu.“