Die von manchen politischen Parteien geforderte Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in den Kammern soll wie ein Weckruf für ein neues Österreich klingen. Auf einen einfachen Nenner gebracht bleibt allerdings nur die vage Hoffnung, dass durch eine Schwächung der Selbstverwaltung das Regieren und die Erfüllung der Staatsaufgaben leichter würden. Schließlich geht man davon aus, dass nur ein geringer Teil der Bevölkerung bereit wäre, Mitglied und Beitragszahler in freiwilligen Interessensverbänden zu sein. Das Kalkül scheint schlüssig: weniger Legitimation, weniger Mitglieder, weniger Geld und damit weniger Einfluss der beruflichen Interessensvertretungen. Die Stärke der gesetzlichen Interessensvertretungen hängt derzeit nicht von ihrer Akzeptanz bei den Mitgliedern ab. Selbst eine beschämend geringe Beteiligung an den Kammerwahlen ist für die garantierte Stellung der Kammern in der Politlandschaft nicht schädlich. Sogar „der Rubel rollt weiter“ und füllt die Kammerkassen. Mitglieds- und Beitragspflicht sei Dank!
Genau hier wollen die Kritiker offensichtlich einhaken und schütten damit Wasser auf die Mühlen derer, die sich ein Österreich ohne strenge Ordnung der Interessenssphären und Einflussbereiche nicht vorstellen können.
Geht es wirklich nur um Interessen und Einfluss? Die Antwort ergibt sich aus einem Blick auf die Aufgaben und Stellung der Vertretungskörper, deren Arbeit, Organisationen und Kooperationen. Wohl nicht zu Unrecht wird den Selbstverwaltungskörpern ein großer Anteil am friedlichen und dynamischen Wiederaufbau Österreichs zugeschrieben. Nur, die Aufbauzeit ist längst vorbei und die Frage, ob das, was damals galt, auch heute noch gilt, scheidet Befürworter und Gegner.
Unterschiedlich wie deren Positionen und Argumente sind auch die Aufgaben der Kammern. Auf diese sollte es jedoch letztlich ankommen, wenn über Pflichtmitgliedschaft oder Freiwilligkeit, Schwächung, Stärkung oder Abschaffung diskutiert und entschieden wird. Was haben die Mitglieder davon, was die Gesellschaft als politisches Gefüge und was die Politik als gestaltendes und entscheidendes Element? Die Gretchenfrage zur Pflichtmitgliedschaft wird sein: Erfüllen Kammern Aufgaben, die eine Pflichtmitgliedschaft in der berufsständischen Selbstverwaltung, vergleichbar mit der territorialen Selbstverwaltung, voraussetzen? Eine Prämisse, deren Erfüllung für eine selbstständige Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben außerhalb der staatlichen Verwaltung wohl notwendig ist. Nachrangig, aber nicht minder wichtig, gilt es die übrigen Aufgaben zu beleuchten.
Zwei Aufgabenbereiche finden sich in allen Kammern in unterschiedlicher Ausprägung. Alle bieten Lobbyismus und Serviceleistungen für ihre Mitglieder. Trotz unterschiedlichem Umfang und Ausmaß reserviert ihnen unser Kammersystem ein politisches Mitspracherecht.
In der Wahrnehmung übertragener staatlicher Aufgaben unterscheiden sich die Kammern. Erst 2016 beschloss etwa der Nationalrat der Arbeiterkammer im übertragenen Wirkungsbereich Aufgaben bei der Eintragung in das neu zu schaffende Gesundheitsberuferegister zu überantworten. Was für die Ärztekammer und deren Mitglieder seit Jahrzehnten gelebte Praxis ist, bedeutet für die meisten nichtärztlichen Gesundheitsberufe absolutes Neuland. Im zukünftigen Register werden, rechnet die Arbeiterkammer vor, 120 000 Mitglieder der Gesundheits- und Krankenpflege sowie der gehobenen medizinisch-technischen Dienste und zusätzlich jährlich etwa 10 000 Neueintretende zu erfassen sein. Unter dem Motto Transparenz, Qualitätssicherung und Patientensicherheit wird damit endlich nachgeholt, was die Kammern der freien Berufe schon seit Jahrzehnten als Meldebehörden leisten.
Der Staat übertrug es der Gesundheit Österreich GmbH(GÖG) das Register der Gesundheitsberufe zu führen und sich die Aufgabe der Eintragung mit der Arbeiterkammer zu teilen. Die GÖG, dessen Alleingesellschafter der Bund ist, übernimmt damit Aufgaben, die bei den freien Berufen gesetzliche Interessensvertretungen wahrnehmen.
Kritik hört man oft am „Apparat“ der Kammern und meint damit die dort tätigen Funktionäre und die Mitarbeiter. Gerne vergisst oder verschweigt man dabei, dass es zum Wesen der Selbstverwaltung gehört ihre Selbstverwaltungskörper aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden. Diese brauchen zur Besorgung der Aufgaben des eigenen wie auch des übertragenen Wirkungsbereichs entsprechend qualifizierte Mitarbeiter.
Aus Erfahrung weiß ich, dass sich Qualifikation und Engagement der in den Kammern beschäftigten Experten durchaus sehen lassen können. Nicht nur als ebenbürtige Verhandlungspartner der öffentlichen Verwaltung. Durch die intensive Beschäftigung mit Spezialthemen, gepaart mit praktischer Erfahrung in der Umsetzung, sind sie geschätzte Diskussionspartner und Berater, auch für politische Entscheidungsträger und oft weit über den Kreis ihrer Kammer hinaus. Lobbyismus auf höchster Sachebene, wenn man so will.
Wer einen schlanken Staat, Bürgerbeteiligung und die Übertragung von Staatsaufgaben an die Betroffenen will, muss sich gut überlegen, die erst 2008 in die Bundesverfassung aufgenommene Möglichkeit der nicht-territorialen Selbstverwaltung grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Alternative ist ein Staat, der bis ins kleinste Detail alles besser zu wissen glaubt und dementsprechend regelt. Staatsverwaltung statt Selbstverwaltung, Bürgerferne statt Bürgernähe.
Allerdings dürfen berechtigte Kritikpunkte an den Kammern nicht klein geredet werden. Selbstherrlichkeit und Bürokratie, Lethargie, Inkompetenz, Nepotismus und Verschwendungssucht gehören dort ebenso aufgezeigt und abgeschafft, wie in der öffentlichen Verwaltung.
Zudem ist zu fordern, dass die Selbstverwaltung, die ausschließlichen oder überwiegenden gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder erkennt und sie in deren Sinne vertritt. Dieser Auftrag impliziert fortschrittliche Dynamik statt starres Verharren und das Bestreben, diese Interessen auch gegenüber dem Staat durchzusetzen. Dass der sich dadurch herausgefordert und in seinem Gestaltungsbereich eingeschränkt fühlt, entspricht dem Wesen autonomer Selbstverwaltung.